Drascha zum Schabbat Mischpatim, Hamburg, Freitag, 21.02.2025 von Landesrabbinerin Alina Treiger
Gerechtigkeit und Verantwortung in der Halacha Liebe Freunde und Freundinnen, nach den überwältigenden Bildern der letzten Wochenabschnitte – dem Auszug aus Ägypten und der Gabe der Tora – die in der midraschischen Literatur so lebendig, er-zählerisch und oft in fantastischen Aggadot geschildert werden, tauchen wir nun plötz-lich ein in die Welt der Halacha, des Gesetzes. So schildert diesen Übergang der Tal-mud: Ein Yaakov Bava Kama 6:3. Rabbi Ami und Rabbi Assi saßen vor Rabbi Jizchak Napcha. Einer von ihnen bat ihn, eine Halacha (gesetzliche Lehre) zu lehren, während der andere eine Agada (erzähle-rische Lehre) hören wollte. Als er begann, eine Halacha zu lehren, unterbrach ihn der eine, der Agada hören wollte. Und als er mit einer Agada begann, unterbrach ihn der andere, der Halacha hören wollte. Daraufhin sagte er: "Ich werde euch ein Gleichnis erzählen: Es ist wie ein Mann, der zwei Frauen hat – eine alte und eine junge. Die junge Frau zieht ihm die grauen Haare aus, und die alte Frau zieht ihm die schwarzen Haare aus. Am Ende bleibt er kahl. Nun werde ich euch aber etwas sagen, das euch beiden gefallen wird."…. Und er fuhr mit seiner Geschichte fort. Fühlt sich das Leben nicht genauso an? Es ist, als wolle uns die Tora sagen: Nicht alles im Leben besteht aus beeindrucken-den, feierlichen Momenten, auch wenn sie sehr schön sind. Nicht jeder Tag gleicht einer Hochzeit, nicht jeder Tag ist ein Schabbat. Nein, das Leben besteht auch aus dem Alltag, mit all seinen Abläufen – oft vorhersehbar, manchmal jedoch nicht. Ein gebrochener Finger, ein verursachter Schaden, oder wir selbst sind diejenigen, die Schaden erleiden. Rechnungen, die begliechen werden müssen oder Steuererklärung, Gerichtsklagen und Auseinandersetzungen. Auch wenn wir uns mit solchen Dingen nur ungern beschäftigen, kommen wir nicht darum herum. Denn auch hier gibt es eine Ordnung, eine höhere Rechtsnorm, die nicht von subjektiven Meinungen abhängt, sondern auf der Ebene des für alle geltenden Rechts beruht. Das jüdische Recht bereits zur Zeit der Tora beschäftigt sich mit Fragen: Wer ist ver-antwortlich, wenn ein Schaden entsteht und wie sieht Schadenersatz aus? Ex.22:4 כִּ֤י יַבְעֶר־אִישׁ֙ שָׂדֶ֣ה אוֹ־כֶ֔רֶם וְשִׁלַּח֙ אֶת־בְּעִירֹ֔ה וּבִעֵ֖ר בִּשְׂדֵ֣ה אַחֵ֑ר מֵיטַ֥ב שָׂדֵ֛הוּ וּמֵיטַ֥ב כַּרְמ֖וֹ יְשַׁלֵּֽם׃ {ס} Wenn jemand ein Feld oder einen Weinberg durch Vieh beschädigen läßt, er läßt ent-weder sein Vieh herrenlos laufen, oder läßt sein Vieh fressen in dem Felde eines an-dern, so hat er das Beste seines Feldes und das Beste seines Weinberges zum Er-satz zu geben! Mekhilta DeRabbi Jischmael, Traktat Nezikin 14:1 nimmt dien Satz aus der Tora aus-einander: (Exodus 22:4) „Wenn jemand ein Feld oder einen Weinberg verwüstet und sein Vieh hineinschickt …“ – Warum wird dies explizit erwähnt? Selbst wenn es nicht geschrieben stünde, könnte es logisch (kal wa-chomer) abgeleitet werden: Wenn eine Grube, die sein Eigentum ist, ihn haftbar macht, und ebenso sein Vieh, das er „gesandt“ hat, sein Eigentum ist, dann: • Wenn wir bereits gelernt haben, dass er für eine Grube verantwortlich ist (die Immobilien/unbeweglich ist), Sollte er dann nicht erst recht für sein Vieh haften, das aktiv Schaden verursacht? Wenn dies bereits logisch herleitbar ist, warum muss der Vers dies noch einmal explizit erwähnen? Er kommt, um uns zu lehren, dass: Der „Zahn“ als mu'ad (gewarnt/verpflichtend) gilt, um das zu fressen, was für ihn geeignet ist. Ein Tier gilt als mu'ad, wenn es auf seinem Weg Dinge zerbricht. Das bedeutet, dass es keine Ausnahme für den ersten Schaden gibt – selbst wenn es das erste Mal ist, dass das Tier einen Schaden verursacht, bleibt die volle Haftung bestehen. Diese Halacha kann man gut auf Kinder anwenden. 😊 Diese Prinzipien erinnern uns an eine tiefere spirituelle und ethische soziale Grundlage: Verantwortung und Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. Verantwortung im jüdischen Recht: Die Halacha unterscheidet zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Verantwortung. Wenn jemand sein Eigentum nicht ausreichend sichert und dadurch Schaden verur-sacht, trägt er die Konsequenzen. Diese Regelung soll nicht nur finanzielle Wieder-gutmachung leisten, sondern auch Menschen dazu erziehen, vorausschauend und ethisch zu handeln. Sie betont, dass wir für die Auswirkungen unseres Handelns auf andere verantwortlich sind. Das jüdische Recht erkennt an, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn ihre Mitglieder ihre Pflicht zur Rücksichtnahme und Ehrlichkeit ernst nehmen. Dies spiegelt sich auch in der modernen Gesellschaft wider: Wer fahrlässig handelt – sei es durch Unachtsamkeit im Straßenverkehr, unsachgemäße Geschäftspraktiken oder durch Missachtung sozialer Verpflichtungen – muss Verantwortung übernehmen. 1. Datenschutz und Ethik in der digitalen Welt: In einer Zeit, in der persönliche Daten häufig missbraucht werden, können wir das Prinzip der Verantwortung aus der Halacha anwenden. Unternehmen, die Nutzerdaten ungesichert speichern oder an Dritte weitergeben, handeln fahrlässig und schaden anderen. Die Halacha fordert, unser "Eigentum" gut zu schützen – heute gehören dazu auch digitale Informationen. 2. Unternehmensverantwortung und Umweltschutz: Die Forderung, das "Beste des Feldes" zur Wiedergutmachung einzusetzen, erinnert uns an die Verantwortung von Unternehmen gegenüber der Umwelt. Firmen, die durch Umweltverschmutzung Schaden anrichten, können nicht nur minimale Strafen zahlen, sondern sollten in nachhaltige Lösungen investieren. 3. Soziale Verantwortung im Alltag: Die Idee, dass Wiedergutmachung aus dem Besten unseres Besitzes kommen soll, kann auch im sozialen Leben angewandt werden. Wenn jemand Unrecht tut – sei es durch eine unbedachte Bemerkung oder eine Verletzung des Vertrauens – reicht es nicht, nur oberflächlich "Entschuldigung" zu sagen. Wahre Wiedergutmachung bedeutet, durch Taten zu zeigen, dass man sich ändern will. Die spirituelle Dimension der Verantwortung: Die Passage : „Das Beste seines Feldes und das Beste seines Weinbergs soll er er-setzen“ (Exodus 22:4) lehrt uns, dass Wiedergutmachung nicht aus dem Schlechtesten oder Mittelmäßigen kommen soll, sondern aus dem Besten, was wir zu bieten haben. Dies ist nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine ethische Lehre: Wenn wir Unrecht wiedergutmachen, müssen wir dies mit vollem Herzen und mit echter Hingabe tun. Geben wir unser Bestes, wenn wir Fehler korrigieren müssen? Die Halacha erinnert uns daran, dass Verantwortung nicht nur eine juristische Verpflichtung ist, sondern auch eine moralische Tugend. Jeder von uns ist ein „Hüter“ – sei es über sein Eigentum, seine Worte oder seine Handlungen. Die Lehren des Wochenabschnitts Mischpatim erinnern uns daran, dass Verantwortung nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gemeinschaftliche Angelegenheit ist. Wenn wir achtsam und gerecht handeln, erschaffen wir eine Welt, die auf Vertrauen und Respekt basiert. Möge jeder von uns in seinem Leben ein Beispiel für ethische Verantwortung setzen und dazu beitragen, dass die Welt ein gerechterer Ort wird. Schabbat Schalom! Hier geht es zur russischen Version:
