Drascha zum Schabbat Wa´era, Hamburg 12. Januar 2024 von Milan Andics
Wie wichtig ist der Glaube? Was ist wichtiger, der Glaube, oder die Taten? Das ist eine Frage, mit der sich alle Religionen dieser Welt auseinandersetzen müssen. Denn wenn ich sage, der Glaube ist wichtiger, stellt sich die Frage, wozu dann überhaupt über die eigenen Taten nachdenken? Wenn ich sage, die Taten sind wichtiger, stellt sich die Frage, wozu sich mit Glaubensfragen abgeben, wozu brauchen wir dann überhaupt die Religion? Wenn ich sage, Glaube und Taten sind gleichermaßen wichtig, stellt sich die Frage, ist der Glaube der Katalisator, aus dem gute Taten hervorgehen, oder ist es genau umgekehrt, ist der Glaube ein Geschenk, was man nur dann erhält, wenn man dafür etwas tut, und gute Taten vollbringt? Und was sind überhaupt „gute Taten”? Was für mich und meine engere Umgebung gut ist, muss nicht zwangsläufig auch für andere gut sein. Fragen über Fragen... Wenn wir uns unseren aktuellen Wochenabschnitt „Wa’era” genau anschauen, können wir feststellen, dass er viel mit genau diesen Fragen zu tun hat. G’tt befielt Mosche zum Pharao zu gehen, und ihn zu überzeugen, dass er das Volk Israel aus der Knechtschaft entlassen und sie aus Ägypten ausziehen lassen soll. Pharao weigert sich, und wird samt dem ägyptischen Volk von 10 Plagen heimgesucht. Was hat das jetzt dem Glauben zu tun? Ganz einfach: Weder der Pharao und sein Volk, noch das Volk Israel, noch nicht einmal Mosche selbst glauben wirklich und wahrhaftig daran, dass das Volk Israel befreit wird von G’tt. Wie kommt es dann, dass der Pharao und das ägyptische Volk für ihre Ungläubigkeit hart bestraft werden, und das Volk Israel trotz ihrer Ungläubigkeit belohnt werden? Es gibt eine kleine Anekdote, die diese Frage wunderbar beantwortet. Einst beklagte sich ein wohlhabender Kaufmann bei dem bekannten pressburger Rabbiner Moses Sofer. Die schwere wirtschaftliche Lage bereite ihm zunehmende Schwierigkeiten und treibe ihn zur Verzweiflung. „Auch mir blieb dies nicht verborgen, aber ich habe auch davon gehört, dass du deinem Bruder, der eine große Familie hat, sehr arm ist und seine Kinder kaum ernähren kann, deine Hilfe verweigerst” – sagte der Rabbiner. „Darum erzählte ich dir soeben von meiner verzweifelten Lage, Rabbi! In meiner jetzigen Lage kann ich mich nicht um die Sorgen der anderen kümmern” – antwortete der Kaufmann. Rabbi Sofer hörte das ruhig an, und sagte schließlich: „Ich will dir nur einen Satz aus Paraschat Wa’era zitieren: „Ich habe auch das Gestöhn der Kinder Israels gehört, da die Ägypter sie knechteten, sprach G’tt.” /2. Buch Moses 6,5/ Das Wort auch in diesem Vers bedeutet, dass nicht nur G’tt, sondern auch jeder Einzelne aus dem Volk das Stöhnen seiner Brüder hörte, und ihre Lasten mittrug.” Wir sehen aus dieser Anekdote, dass unsere Rabbiner den Schlüssel für unsere Befreiung nicht im Glauben, sondern in den Taten, in der Solidarität unserer Gemeinschaft gesehen haben. Ich gehe noch viel weiter, denn ich sage, Solidarität und Mitmenschlichkeit hört nicht vor der eigenen Haustür, in der eigenen Gemeinschaft auf. Das beste Beispiel dafür das Schicksal vom Pharao und seinem Volk. Der Grund für ihre harte Bestrafung war nicht ihr fehlender Glaube, sondern ihre fehlende Solidarität, und zwar nicht nur gegenüber der eigenen Gemeinschaft, sondern auch gegenüber der „Fremden”. Wie aktuell dieses Thema ist, sehen wir in der aktuellen Politik. Stimmen werden lauter, die sagen: „Schluss mit der Solidarität gegenüber anderen, wir haben genug Probleme in Deutschland!” Man sieht es aber auch in den einschlägigen Social Media Kanälen. Ich bin schockiert darüber, was für Kommentare Hilfsorganisationen bekommen, die einfach nur um freiwillige Spenden bitten, und mit welcher Aggressivität Menschen, die alles verloren haben angegangen und erniedrigt werden, und auch noch ihre letzte menschliche Würde genommen wird. Wir Juden müssen es besser wissen, denn das ist nicht das, was unsere Torah uns beibringt. Lasst euch nicht verleiten von den lauter werdenden Stimmen, nicht einmal dann, wenn ihr das Gefühl habt, dass etwas Wahres daran sein könnte. Denkt immer daran, wohin diese Einstellung das ägyptische Volk geführt hat! Hier geht es zur russischen Übersetzung: